Verhüllen kann den Blick schärfen. Christo hat dies mit seiner Verhüllungskunst mehrfach gezeigt. Die Verhüllung eines Reiterstandbildes in Stuttgart ist eher peinlich. 
Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I. in Stuttgart auf dem Karlsplatz –Foto: MSeses / Wikimedia CC BY-SA 3.0

Irgendwo bei mir hängt ein Druck einer Skizze vom verhüllten Reichstag mit einem Stück des Originaltuches und der Signatur Christo im Hause herum. Was haben wir um die Verhüllung des Reichstages gestritten. Es war, das kann ich aus persönlicher Überzeugung und Erinnerung sagen, das beeindruckendste Kunstevent der jüngeren deutschen Geschichte. Christo und Jeanne-Claude hatten den Deutschen Reichstag mit einer Aluminiumbedampften Polypropylengewebe vollkommen verhüllt und dabei dem Gebäude völlig neue Konturen gegeben. Der Reichstag, der seit seiner Wiedererrichtung nach dem II. Weltkrieg in Berlin nahe der Mauer stand und nicht als Parlamentsgebäude genutzt wurde, wurde in diesem Zustand von dem Künstlerehepaar verhüllt und dem Deutschen Volk auf eine völlig neue Weise gezeigt. Unmittelbar danach begann der Umbau für die neue Nutzung als Sitz des Deutschen Bundestages.

Deutlicher sehen

Die Verhüllung des Reichstages war kein Verstecken, kein Canceln, keine Abrechnung mit der Geschichte, es war eine künstlerische Auseinandersetzung mit einem für unser Land wichtigen historischen Gebäude. Ein Kunstwerk darf kontrovers gesehen werden. Es war zudem das erste Performancekunstwerk, das live im Internet verfolgt werden konnte. Webcams machten es möglich, das Werden von „Wrapped Reichstag“ live zu verfolgten. Es war sehr beeindruckend.

Material, mit dem der Reichstag verhüllt war. — Foto: Gemeinfrei

Und weil Kunst nun einmal von Können kommt (käme es von Wollen, hieße es Wunst), war der verhüllte Reichstag technisch perfekt ausgeführt und in der Tat schön. Ein so bekanntes Gebäude zeigt auf einmal ganz andere Konturen. Sie wurden viel schärfer und kantiger. Wenn ich heute mit der Berliner Republik fremdele und mir die Bonner Republik zurückwünsche, dann denke ich an Christo und den Verhüllten Reichstag zurück und schaue mir das Bild davon an. Wie anders eine Berliner Republik werden würde, konnte man damals schon vorsichtig erahnen. Christo war da auch etwas – wahrscheinlich ungewollt prophetisch.

Wunst statt Kunst

Nun macht eine neue Verhüllung von sich reden. Ein selbsternanntes interdisziplinäres Kunstkollektiv (in Wirklichkeit ein Wunstkollektiv) „ReCollect“ löst einen Sturm im Wasserglas des Internet aus, weil sie ein Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I. in Stuttgart mit einem roten Lappen schlampig verhängt haben und sich albern auf Twitter mit dem Mist präsentieren. Keine Frage, eine Verhüllung einer Kaiserstatue gerade des ersten Deutschen Kaisers könnte eine fruchtbare Debatte auslösen. Das platte Nachplappern der These von Sebastian Hafner (die Wünstlerkids werden sicher nicht wissen, wer das war), der eine direkte Linie von Bismarck zu Hitler sah, ist denkbar unfruchtbar. Das Deutsche Reich war ganz sicher nicht nationalistisch, es war eine pragmatische Notlösung und es war sicher nicht kolonialistisch, da Deutschland erst einige Jahrzehnte später ins prestigeträchige, doch verlustreiche Kolonialgeschäft eingestiegen ist.

König Wilhelm von Preußen, dem eine deutsche Kaiserkrone aufgedrängt wurde, die historisch nichts mit der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches zu tun hat, hing wie sein Kanzler der Dominanz von Preußen im Deutschen Reich an. Als Katholik kann man angesichts eines protestantischen Herrscherhauses selbstverständlich nur kritisch die Stirn runzeln und bestenfalls mit Paulus denken, dass jedes Volk die Obrigkeit hat, die es verdient. Gerade Nationalismus war da aber nicht im Spiel. Würde man dem Kaiser preußische Machtinteressen vorwerfen, würde man ihn kritisieren, dass besonders die Katholiken in Westfalen, im Emsland und im Rheinland unter dem Kulturkampf seines Reichskanzlers zu leiden hatten, darüber kann man reden. Historisch! Man muss auch über die Konstruktionsfehler des Reiches von 1871 reden. Dazu muss man aber nicht ein Reiterstandbild mit einem roten Lappen verunstalten.

Der Unterschied

Tatsächlich wird hier der Unterschied deutlich zwischen der Verhüllungskunst von Christo und der Verhüllungswunst von ReCollect deutlich. Während ersterer die Konturen schärfte, betreiben letzte eine verunschärfende, woke Cancel culture. Das Motto lautet: Was wir nicht mehr wollen, z.B. alte, weiße Männer, löschen wir aus, statt die kritische Kontroverse zu suchen. Ausgerechnet einige „Repräsentanten des Deutschen Katholikentags“ haben diese Verhüllung entschieden. Das muss einem jeden Katholiken nun wirklich peinlich sein. Als wäre nicht dieses völlig überflüssige sogenannte „ZdK“ schon schlimm und peinlich genug, jetzt betreiben die schon Cancel culture mit dem Kaiser. In Stuttgart ist man übrigens wenig begeistert von dieser Aktion. Erfreuen sich ohnehin Katholikentage an ihren Austragungsorten eindeutig abnehmender Beliebtheit, schafft man sich durch Bilderstürmerei sicher keine Freunde. Was bleibt außer festzustellen, dass diese Aktion einfach nur peinlich und zum Fremdschämen ist. Der Katholikentag hat seinen ersten Skandal. Angesichts der Tatsache, dass er zur Werbeveranstaltung von synodalem Weg, Out in Church, Maria2.0 darf man einige Schmankerl erwarten. Vielleicht hängen wir einfach ein Tuch über den Katholikentag und tun so, als wäre nichts.