Die Getriebenen – eine Rezension
Es gibt wohl nichts in den vergangenen Jahrzehnten, das Deutschland und Europa so sehr strapaziert hat, wie die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016. Im Zentrum steht Angela Merkel, Bundeskanzlerin und CDU- Vorsitzende. In einer einsamen Entscheidung hat sie die Grenze unseres Landes geöffnet, das Dublin- Abkommen de facto außer Kraft gesetzt und unser Land hart an den Rand des Kollaps getrieben.
Robin Alexander ist Berlin- Korrespondent der WeLT. Seit Jahren begleitet er in dieser Funktion Angela Merkel nicht nur in Berlin, sondern auch rund um den Globus. In mühsamer Kleinarbeit hat sich Alexander daran begeben, die Zeit seit September 2015 journalistisch aufzuarbeiten. Im Zentrum der Betrachtung steht die Politik der Bundeskanzlerin. Dabei betrachtet er die Innenpolitik und die Außenpolitik der Kanzlerin. Erstere hat dazu geführt hat, daß nun ungefähr eine Million Menschen als Flüchtlinge oder Asylbewerber in unserem Land leben. Die Außenpolitik, die die Öffnung der Grenzen begleitete, hat am Ende dazu geführt, daß trotz weiterhin offener Grenzen kaum noch Flüchtlingen in Deutschland ankommen.
Es sei weder eine Heiligengeschichte noch Schurkenstück, das zu berichten sei, bemerkt der Autor im Vorwort. In der Tat zeigt sich das Bild einer von den Entwicklungen getriebenen Politik und einer getriebenen Kanzlerin, die nur noch außen hin den Eindruck erweckt, die Lage im Griff zu haben. „In Wahrheit war nichts Strategie und alles Improvisation.“, so heißt es auf S. 110 des Buches. Das ist der Kernsatz in der Mitte dieses Buches. Damit ist im Grunde alles umrissen.
Gegliedert ist das Buch grob in drei Phasen. Da ist die Vorgeschichte der Flüchtlingskrise. Es folgt die Öffnung der Grenzen und die Phase der Krise, in der Bürgermeister und Landräte vereint mit Ministerpräsidenten einerseits die Massen der einreisenden Menschen unterbringen und verpflegen, zugleich aber die Kanzlerin bestürmen, weil schon nach kurzer Zeit die Kapazitäten erschöpft sind. Zugleich schwimmt die Kanzlerin ja auf einer Welle der Begeisterung der Menschen, die Deutschland ein freundliches Gesicht geben. „Refugees welcome“, die Willkommenskultur ist in aller Munde. Dennoch kippt die Stimmung. Angst breitet sich aus. Eine Gegenöffentlichkeit, wie Alexander sie nennt, in den sozialen Netzwerken läuft Sturm gegen die Willkommenspolitik. Das geht bis hin zu Verschwörungstheorien. Der Berlin- Korrespondent der WeLT nimmt auch diese Strömungen auf und untersucht sie. Die letzte Phase ist die Bewältigung der Krise, zu der auch der EU- Türkei- Deal gehört. Auch diesen Deal untersucht Robin Alexander akribisch. Er zeichnet ihn von den ersten Schritten bis zum endgültigen Abkommen nach. Die Strukturen der entstehenden Abhängigkeit von einer Türkei und ihrem Präsidenten versteht der Journalist ausgezeichnet darzustellen.
Das Buch geht nicht streng chronologisch vor, was den Leser zu sehr großer Aufmerksamkeit zwingt. Ein Autor muß in einem solchen Werk linear darstellen, was sich zeitgleich auf mehreren Ebenen ereignet. Die Geschehnisse rund um die Flüchtlingskrise sind zudem hoch komplex. Die Linearisierung dieser komplexen Zusammenhänge gelingt trotz der komplizierten Materie aus nationalem sowie internationalem Recht und großer Politik wirklich gut. Das Buch gewährt eine weitestgehend objektive Sicht auf eine der schwierigsten Phasen der deutschen Geschichte seit der Wiedervereinigung. Alexander wirkt der emotional aufgeladenen Stimmung zwischen Befürwortern und Gegnern der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung entgegen, indem er die Geschehnisse gnadenlos auf die Sachebene zieht. Hilfreich waren ihm dabei nicht nur die eigenen Kenntnisse aus langer Vertrautheit mit dem politischen Berlin. Internationale Gesprächspartner waren in der Lage sein Wissen abzurunden, um ein objektives Bild des Geschehens auch aus Sicht der Nachbarn und EU- Partner Deutschlands zeigen zu können. Dabei bleibt aber immer die Politik der Bundesregierung im Mittelpunkt.
Geradezu meisterlich gelungen ist beispielsweise Beschreibung die politischen und diplomatischen Interaktion der Bundeskanzlerin mit ihrem österreichischen Amtskollegen. Dessen vorrangiges Anliegen war die Offenhaltung der deutschen Grenzen. So konnte sich Österreich als Jausenstation für die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland betrachten. Lesenswert ist auch die Genese der Nato – Operation in der Ägäis. Dabei ist besonders beachtenswert, wie die Rolle der Bundesverteidigungsministerin aussieht. Nicht nur, daß über die maßgeblichen Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik keine Bundestagsdebatte stattgefunden hat, auch über den Einsatz der Bundeswehr hat der Bundestag nicht entscheiden dürfen. Eine Wortklauberei der Ministerin machte es möglich. Dieser und viele andere interessante Sachzusammenhänge finden sich im Buch nachvollziehbar erklärt.
Wäre man nicht Zeitzeuge der im Buch „Die Getriebenen“ beschriebenen Ereignisse, so könnte man glatt auf die Idee kommen, Robin Alexander für einen Literaturpreis vorzuschlagen. Das Buch fesselt, das tut es von der ersten bis zur letzten Seite. Doch es ist definitiv kein Roman, der hier entstanden ist. Es sind harte Fakten und Tatsachen, sauber recherchiert und gut lesbar aufgeschrieben. Es ein Beitrag zur Versachlichung einer über die Maßen emotionalisierten Debatte. Die Folgen der Flüchtlingskrise sind lange nicht ausgestanden. Geht es um die zeitgeschichtliche Bewertung, liegt hier ein exzellentes Hilfsmittel vor.
Wer „Die Getriebenen“gelesen hat, versteht auch nicht besser, warum Angela Merkel so gehandelt hat. Das wird ihr Geheimnis bleiben. Aber man versteht, wie sie gehandelt hat und wie die Entscheidungen entstanden sind. Der Titel hätte nicht besser gewählt werden können.
Merkel und die Flüchtlingspolitik: