Die erzwungene Verschiebung der Verleihung des "Evangelii Gaudium Preises" ist ein perfektes Beispiel für Cancel Culture. Es braucht nur ein paar hingeworfenen Stichworte und die Verantwortlichen ergreifen das Hasenpanier.
Die Unkultur der Cancel Culture greift immer weiter um sich. Foto: Pixabay.

Am morgigen Samstag, so war der Plan, sollte in Hannover der „Evangelii Gaudium Preis“ verliehen werden. Die Initiative Neuer Anfang hat diesen Preis ins Leben gerufen, um Projekte auszuzeichnen, die sich um Neuevangelisierung verdient machen. Die Preisverleihung wird nun nicht im vorgesehenen Rahmen erfolgen. Es ist ein perfektes Beispiel von Cancel Culture. Diese Unkultur der Verbannung unliebsamer Menschen, Gruppen und Meinungen trägt natürlich streng antidemokratische und antifreiheitliche Strukturen. Wer sich im Besitz der Macht des Mainstream glaubt, braucht nur wenige Fäden zu ziehen, um den Paria der Veröffentlichten Meinung erfolgreich auszugrenzen. Der Beifall der woken Blase ist ihm sicher.

Am Beispiel der geplanten Preisverleihung lässt sich vieles dieser ungesunden Strukturen zeigen. Dabei ist zu bedenken, dass es dazu, wie bei allen totalitären Systemen immer des maximalen Einsatzes von Unwahrheit bedarf.

Zurück zum Anfang: Der Neue Anfang ist eine Gruppe von Katholiken, die sich insbesondere im Verlauf des Synodalen Weges für den katholischen Glauben eingesetzt hatten. Nun sollte in Hannover im Rahmen einer kleinen Feierstunde den „Evangelii Gaudium Preis“ an eine Familieninitiative verleihen. Die Laudatio auf die Preisträger sollte der Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, halten, der am selben Tag in der dortigen Gemeinde auch den neuen Altar weihen wollte.

Evangelischer Protest gegen Katholiken

Es bedurfte eines Artikels im Webportal „Die Eule“, welches einem linksprotestantischen Spektrum zugeordnet werden kann und wohl einiger besorgter Wortmeldungen aus dem Umkreis der Pfarrei und anderer lokaler linkskatholischer Aktivisten. Danach war die Preisverleihung in Hannover abgesagt.

Sowohl die Preisträger als auch der Neue Anfang wurden als „christliche Rechte“ bezeichnet und damit in die Nähe des politisch rechten Spektrums gerückt. Man winkte mit einer schon angemeldeten Demonstration. Damit war die Preisverleihung dann Geschichte. Welcher Bischof möchte schon gerne eine Demo vor der Kirche, wenn er den Altar weiht oder gar eine Störung der Liturgie? Auch der Gedanke, die Feier der Gemeinde nach der Altarweihe sowie die Preisverleihung selbst könnten von linken Aktivisten gestört werden, sind nicht gerade attraktive Überlegungen. So ist die Absage der Preisverleihung wiewohl bedauerlich, aber dennoch nachvollziehbar.

Natürlich wird der Preis andernorts verliehen werden und natürlich wird kein Nachtvogel der Welt den Neuen Anfang daran hindern können. Die katholische Wahrheit existiert unabhängig von woker Agenda und (ökumenisch durchaus problematischer) linksprotestantischer Hetze gegen katholische Gruppen. Das ist am Ende jedoch nichts anderes als ein gewöhnliches Eiche-Sau-Problem. Mithin ist es eigentlich gar kein Problem. Vermutlich wird „Die Eule“ nicht einmal mitbekommen, wann und wo der Preis verliehen werden wird. Das ist auch gut so. „Die Eule“ gibt ja konservative Bistümer und Bischöfe erkennbar verloren, da sie ja Gruppen, wie den Neuen Anfang gewähren lassen. Das naive Schwarzweißdenken ist ebenso lustig wie erschreckend.

Aber Bischof Wilmer, so „Die Eule“, habe sich den Ruf eines Reformers in der DBK erarbeitet. Dem Begriff Reform liegt hier natürlich eine protestantisierendes Reformverständnis zu Grunde. Wäre Bischof Wilmer im katholischen Sinne ein Reformer, würde ihn „Die Eule“ als konservativ und damit als böse framen. Reform im katholischen Sinne geht so, wie Mutter Teresa von Kalkutta einst Journalisten auf die Frage antwortete, was sich in der Kirche ändern müsse: „Sie und ich“. Das ist die einzig echte Reform der Kirche.

Eine eindimensionale Sicht auf die Wirklichkeit

Natürlich geht es „Der Eule“ um ihr Verständnis von Gleichstellung von Frauen und um eine bestimmte LGBT-Agenda. Das ist natürlich aus katholischer Sicht abzulehnen, doch in einer freien Gesellschaft sollen die Macher der Eule das vertreten dürfen. Ja mehr noch, gerieten sie für ihre Meinung in Bedrängnis, so wäre es für jeden freien Christenmenschen geboten, sie zu verteidigen. Doch statt ihrerseits die Freiheit zu verteidigen wird es in Nachtvogelkreisen schnell wieder totalitär indem der Bogen herbeigeframt wird, dass der sogenannte Anti-Gender-Diskurs ein Einstieg in weitere extrem rechte Ideologien der Ungleichwertigkeit sein könne. Zwar kommt die AfD nur insofern vor, dass man die Bischöfe für ihren – in der vorliegenden Form übrigens sehr umstrittenen – Anti-AfD-Kurs lobt. Doch der Rosa Elefant ist nicht zu übersehen, Preisträgern wie auch Preisverleihern wird wabernd verschwurbelt eine rechte Gesinnung unterstellt, die beim Leser eine AfD-Nähe aller Protagonisten assoziieren lässt. Man muss es seitens der Eule gar nicht aussprechen, denn das könnte justiziabel sein, es reicht, sich in nebeligen Andeutungen und Gewisper zu ergehen. Ziel: Aufbau von Kontaktschuld. Wer sich mit solchen einlässt… Da das woke Moralsystem keine Vergebung kennt, gehört auch die Kontaktschuld schon in der Phase des einfachen Miteinander-Redens zu den unverzeihlichen Handlungen.

Die gecancelte Veranstaltung ist eine verpasste Chance, für die es vermutlich schon zu spät ist. In der mittleren Zeit der Kanzlerschaft Merkels stellte man plötzlich fest, dass es keine gesellschaftlichen Debatten mehr gab. Politik war auf „alternativlos“ gestellt. Die Kanzlerin regierte auf Sicht, was nebenbei bemerkt unter anderem an der verlotterten Infrastruktur des Landes sichtbar wird. Es gab keine Pläne und Ziele mehr für das Land. Das Parlament winkte durch, was die Regierung verlangte. Die Medienlandschaft assimilierte sich. Kritik war nicht mehr opportun. Was in der großen Politik passiert, bricht sich mit einem Verzug von zehn Jahren auf die Gesellschaft herunter. In einem Klima der Alternativlosigkeiten fanden Wokeismus und Cancel Culture perfekt Wachstumsbedingungen, denn vom linken Mainstream abweichende Meinungen wurde mit zunehmender Härte schlicht und ergreifend die Existenzberechtigung abgesprochen. Der Raum des Diskurses wurde von Jahr zu Jahr enger.

Bezogen auf kirchlichen Themen hat das ebenso fatale Folgen wie gesamtgesellschaftlich. So existiert in Medien wie „Die Eule“ – für deren Protagonisten – offensichtlich überhaupt gar kein Recht, den Synodalen Weg kritisch zu sehen. Es ist schlicht verboten und wird nur mangels nicht vorhandener unmittelbarer Exekutivmacht nicht mit Kerker oder Scheiterhaufen geahndet. Aber auch Cancel Culture ist eine Form der Ver-Nichtung. Es ist für Menschen, die für Freiheit des gesprochenen Wortes eintreten, ein Akt der Gewalt, die Rede zu verbieten. Nicht der Akt der Rede ist ein Gewaltakt, sondern der Akt des Redeverbots ist ein Akt der Gewalt. Wie Nichtreden zu einem Gewaltakt werden kann, zeigt das folgende Video:

Die Demonstranten hätten die Möglichkeit, sich zu erklären, plausibel und nachvollziehbar zu verbalisieren, warum sie der Ansicht sind, dass man es dem Journalisten Julian Reichelt nicht erlauben dürfe, öffentlich zu reden. Sie outen sich dabei als ideologisch verblendete, ideologisch zuverlässig programmierte Sprechpuppen. Damit verüben sie tatsächlich einen Akt der Gewalt gegen Julian Reichelt, der hartgesotten genug ist, das sportlich zu nehmen.

Strafanzeige – Eine neue Form der Einschüchterung

Im Jahr 1982 kam der wohl am meisten karikierte Mann ins Amt des Bundeskanzlers. Helmut Kohl wurde verspottet und beleidigt, was das Zeug hielt. Er hielt stand. Im Jahr 2021 kommt eine Partei an die Macht, die zu Kohls Zeiten keine Rolle in der bundesdeutschen Politik spielte und die nun hoffentlich bald wieder im Orkus der Geschichte verschwinden wird. Zwei Protagonisten dieser Partei brechen einen Rekord nach dem anderen. Neben dem Rekord der schlechtesten Außenpolitik aller Zeiten und dem vorgelegten Rekordtempo des Untergangs der deutschen Wirtschaft, kommen noch Rekorde in der Zahl der persönlich unterschriebenen Strafanzeigen hinzu. Zu Anfang dürften die meisten Betroffenen geschwiegen haben, denn einen Minister zu beleidigen und dafür eine Strafe zu kassieren, ist am Ende ja auch peinlich.

Mehr und mehr Fälle kommen ans Tageslicht und es erweist sich jeder einzelne dieser Fälle als Bagatelle. Anscheinend gehen die Fälle in die Tausende und immer mehr Politiker und Aktivisten werden bekannt, die zu diesem Mittel der Strafanzeige in Bagatellfällen gegriffen haben, um Bürger einzuschüchtern. Da zu allem Überfluss unter der letzten Merkelregierung auch noch ein neuer Majestätsbeleidungsparagraph ins Strafrecht aufgenommen wurde, können die Strafen bei Beleidigung von Politikern auch noch mal etwas schärfer ausfallen.

Dazu kommt eine völlig überlastete Justiz, die solche Bagatellfälle ohne große Ermittlungen auch mal schnell abhakt. Welcher Richter setzt sich schon gerne mit der Anzeige eines Ministers auseinander und fegt diese mal eben vom Tisch. Man möchte ja noch was werden im Justizsystem. Das ist allzu menschlich und sollte bei der moralischen Einschätzung der Fälle berücksichtigt werden. Juristisch sieht das sicher ganz anders aus. Regierungsverantwortung zu übernehmen, bedeutet auch Macht übertragen zu bekommen. Diese wird benötigt, damit getan werden kann, was zu tun ist. Den Bürger mit Hilfe dieser Macht zu bedrängen ist übel und darf als Kennzeichen von mutmaßlichen Feinden der Demokratie und der Freiheit angesehen werden.

„Wenn es morgens um sechs Uhr an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe“, sagte Winston Churchill. Was denken wohl jene Mitbürger, an deren Tür in den vergangenen Wochen und Monaten morgens um sechs die Polizei klingelte und das Haus durchsuchte? So schüchtert man Bürger ein und bringt sie zum Schweigen. Auch das ist Cancel Culture.

Cancel Culture ist kein singuläres Problem von Kirchen, Universitäten, Parteien, Vereinen oder Medien. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das jeden treffen kann. Es ist ein Problem, das unsere Freiheit insgesamt in Bedrängnis bringt und am Ende bedroht, denn wer nicht mehr reden darf, darf sich irgendwann nicht mehr bewegen, darf nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, wird sozial getötet. Cancel Culture ist nicht harmlos, es ist ein Akt revolutionärer Gewalt. Das gilt im Staat, das gilt aber auch in der Kirche. Das einzige Mittel, das wirklich gegen Cancel Culture hilft, ist mutiges Reden. Gelegen oder ungelegen.

Das gilt für Bischöfe übrigens ebenso wie für Laien. Das gilt für Politiker ebenso wie für Bürger. Und da jede Revolution am Ende ihre eigenen Kinder frisst, geht die allergrößte Gefahr, die diese Unkultur mit sich bringt, am Ende gerade für jene aus, die sie heute praktizieren.

Merke: Wer heute Redeverbote erwirkt, wird womöglich morgen selbst nicht mehr sprechen dürfen.