Die Schonfrist läuft noch. Doch schon jetzt ist abzusehen, dass keine Verbesserung in Sicht ist. Die Kluft zwischen dem Bürgertum und der Regierung wird nicht kleiner. 
Die Schonfrist dauert noch an, doch schon jetzt zeigt sich, wie führungsschwach der Kanzler ist. – Foto: Pixabay

Gewöhnlicherweise gönnt man einer Regierung die berühmten 100 Tage, um Tritt zu fassen. Erst dann beginnt die Regierungskritik. Eine interessante Begründung ist im Podcast von Steingart mit Peter Sloterdijk von heute zu hören. (Link, siehe auch eingebetteter Tweet.) Sloterdijk findet, dass wir in einer Demokratie 100 Tage feiern müssen, dass ein friedlicher Machtwechsel stattgefunden hat und kein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Sieht man sich die Bilder der Demonstrationen gegen die Coronapolitik der Regierung an, kann man sich nicht allzu sicher sein, dass der Bürgerkrieg nicht doch noch kommt. Ist Sloterdijk da etwas zu optimistisch?

Eine Ausnahmesituation

Der Staat jedenfalls zeigt sich gerade nicht unbedingt bereit, mit jenen Bürgern in einen offenen Diskurs gehen zu wollen, die konträr zur – parteiübergreifend dominierenden – Regierungspolitik stehen. In der Demokratie, nochmal Sloterdijk aus o.g. Podcast müssen die Politiker schlimmstenfalls die Abwahl befürchten, sie müssen nicht befürchten nach dem Machtverlust vor Gericht oder im Gefängnis zu landen. Dass dies trotz der gegenwärtigen mutmaßlichen Rechtsverstöße von Politik und Verwaltung auf allen Ebenen des Staates unbedingt so ist, bleibt abzuwarten. Die Coronapandemie ist eine Krise. Eine Krise ist Sondersituation. In diesem Fall ist es eine Sondersituation des gesamten Staates. Die drei regulären Mächte Legislative, Exekutive und Judikative befinden sich ebenso im Ausnahmezustand, wie die sogenannte vierte Macht, die Medien.

Die Bürger des Staates befinden sich insofern in einer Ausnahmesituation als sie von den drei Mächten wesentlicher Teile ihrer Grundrechte beraubt wurden. Das geschah in einem Ausmaß, das demokratischen Rechtsstaaten nicht angemessen erscheint. Als Grund dient eine Pandemie. Die Bürger werden von dieser Pandemie (oder ist es eine Epidemie oder vielleicht nur ein Popanz?) bedroht. Wie eine ultimative Bedrohung wirkt, dass sehr viele gar nicht sicher sagen können, was die Bedrohung denn wirklich ist. Die Sondersituation ist zudem gekennzeichnet durch ein breites Versagen der Entscheidungskraft. Diese beruht auf einem Grundversagen des Staates, das darin besteht, das Vertrauen eines großen Teils der Bürger verloren zu haben. Doch der erste Auslöser ist gar nicht diese Krise.

Krise folgte Krise

Die Wurzeln liegen tiefer. Sie gehen zurück auf mutmaßliche Rechtsbrüche der Vorgängerregierung in der Bankenkrise, der Eurokrise und der Flüchtlingskrise. All diesen Handlungen gemeinsam ist sowohl ein exekutives Handeln an den legislativen Organen des Staates vorbei als auch eine in Jubelarien ausbrechende Medienlandschaft. Die Parlamente waren nicht einmal mehr Laberbuden wie zu Kaisers Zeiten, sie waren Abnickbuden von der Kanzlerin Gnaden. Wie weit diese (Un-)Gnade ging, zeigte sich in der Anordnung der Kanzlerin, eine Ministerpräsidentenwahl in einem Bundesland rückgängig zu machen. Ein unvorstellbarer Vorgang. Das Fremdeln der Bürger mit dem Staat ist untrennbar verbunden mit dem Gefühl, von den von den Bürgern gewählten Abgeordneten fundamental – zu Gunsten eines absoluten Primat der Exekutive – im Stich gelassen worden zu sein. Ob das Gefühl in jedem Fall von nachprüfbaren Sachverhalten gedeckt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Nicht zu leugnen ist das Unbehagen, hintergangen und getäuscht worden zu sein.

Ein exzellentes Beispiel für die mediale Täuschung ist immer noch die Silvesternacht 2015/16 in Köln, wo es zu massenhaften übergriffen von Migranten gegenüber Frauen kam. Nach dem Motto, was nicht passt, wird nicht berichtet, verschwiegen die Medien im vollen Einklang mit den Organen der Exekutive den Fall so lange, bis es dank der Recherche alternativer Medien nicht mehr zu leugnen war. So schürt man ein Misstrauen, das später in dem bösen Begriff „Lügenpresse“ die Runde machte. Das Misstrauen gegen die Medien sitzt bis tief in bürgerliche Kreise sehr tief. So verwundert es nicht, wenn auch in der Coronakrise eine stets systemkonform berichtende Medienlandschaft bestehend aus öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und etablierten Verlagshäusern das Vertrauen der Bürger immer mehr verliert. Manipulationen mit Zahlen, Daten und Fakten, dazu Framing und Nudging, ergänzt von Angst- und Panikkampagnen dominieren auch zu Beginn des dritten Jahres der Coronakrise das exekutive Handeln. Wie zuvor geht im Gleichschritt die mediale Berichterstattung neben der Exekutive her.

Fakenewsschleudern boomen

Wen sollte es da wundern, dass Fakenewsschleudern aller Herren Ländern Konjunktur haben? Am gruseligsten aber ist, dass diejenigen, die sich um eine objektive Medienarbeit bemühen, die Zahlen hinterfragen, Fakten aufbohren, unangenehme Fragen stellen, die sich nicht mit hingeworfenen Informationsbröckchen von Regierungssprechern zufriedengeben, in gleichem Maße behindert werden, wie irgendwelche Alumützenportale. Wenn ein Boris Reitschuster oder die Achse des Guten oder Tichys Einblick und andere sich auf den Plattformen der großen Tech- Konzerne nicht mehr ohne regelmäßige Gerichtsverfahren halten können, dann ist etwas faul im System. Man muss weder des einen noch des anderen Protagonisten Fan sein, um anzuerkennen, dass hier eine Neuauflage von David gegen Goliath stattfindet. David auf der richtigen Seite zu verorten dürfte kein Fehler sein.

Selbst der neue Chefreporter der Welt wurde auf Twitter bezichtigt, mit seiner kritischen Recherche und aufklärenden Berichterstattung den als „Schwurblern“ verunglimpften Kritikern Material zu liefern. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Der böse Bube ist nicht der Lügner, sondern der, der die Wahrheit sucht? Wenn das nicht diabolisch ist, was denn dann?

Je suis „maßnahmenkritischer Klientel“

Wer in diesem überreizten Klima davon liest, dass eine Stadt Demonstrationen von „maßnahmenkritischer Klientel“ unterbinden will, dann kommen wirklich übelste Assoziationen auf. Schon allein die Terminologie ist dem Wörterbuch der totalitären Gruselsprache entnommen. Wenn gleichzeitig Bürgermeister dazu aufrufen, für die Maßnahmen zu demonstrieren, dann fühlt man sich ganz übel an staatlich bestellte Kundgebungen aus finsterster Vergangenheit erinnert. Fehlt nur noch die Ehrentribüne, an der die Staatsorgane die angeordnete Demonstration abnehmen. Wir befinden uns an einem Kipppunkt in der Geschichte unseres Landes. Der Regierungswechsel wäre eine Chance gewesen. Doch sie wurde vermutlich versemmelt.

Es gibt keinen Grund, nach diesem in der Tat mustergültig verlaufenen Regierungswechsel einhundert Tage zu feiern. Es gilt, aktiv daran zu arbeiten, ein grundsätzliches Grundvertrauen in den Staat zurückzugewinnen. Der anfängliche Impuls, die Coronapolitik zu professionalisieren, indem die Beratung auf eine breitere Basis gestellt wurde, wird derzeit konterkariert zum Beispiel durch ein Lavieren des Kanzlers bei der Impfpflicht. Da er sich aus pro aus dem Fenster gelehnt hat, ohne jedoch ohne eine Kanzlermehrheit in der Frage zu haben, könnte dies zu ersten Regierungskrise führen. Ein klarer Fehler! Ein klarer Fehler war es auch einen aktiven Talkshowplauderer ins Gesundheitsministerium zu berufen. Gesundheitspolitik macht man nun einmal nicht in Talkshows.

Gesundheitspolitik auf Talkshowniveau

Nun erleben wir, wie ein handwerklicher Fehler und eine leichtfertige Entscheidung des Bundesrats dazu führen, dass das RKI auf Knopfdruck Grundrechte für Bürger abschalten kann. Das ist ein handfester Skandal! Der nächste handfeste Skandal ist das erste Gesetz, das diese Bundesregierung in den Bundestag einbringt: Die Streichung des §219a. Das Programm der Bundesregierung in den ersten Wochen ließe sich umschreiben mit: Gegen Freiheit und Leben. Besserung nicht in Sicht.

Vertrauen in den Staat kann nur dann zurückgewonnen werden, wenn Entscheidungen auf Basis einer breit angelegten Debatte gefällt werden und maximal transparent fallen. Vertrauen kann wieder wachsen, wenn Medien neu beginnen, ihren Auftrag zu erfüllen, die Politik kritisch zu begleiten. Vertrauen kann wieder wachsen, wenn der Begriff „maßnahmenkritische Klientel“ als demokratische Auszeichnung gemeint ist und verstanden werden darf.

Doch noch auf die Straße?

„Ihr kriegt mich noch auf die Straße.“, schrieb vor einigen Tagen Birgit Kelle. Und der spontane Gedanke war, ja, viel fehlt nicht mehr und ich überwinde meine bürgerliche Scheu. Politik und Sex, so könnte man ein bürgerliches Credo paraphrasieren, macht man nicht auf der Straße. Zudem gehört ein großer Teil derer, die gegen die Coronapolitik auf die Straße gehen, nicht zu meinen politischen Freunden. Da sind Hemmungen, die zu überwinden einiges kostet. Wenn ausgerechnet der Staat daran arbeitet, macht das nachdenklich.

Regieren in der Pandemie verbietet im Grunde den 100 Tage- Schutz für die Regierung. Sie hat ihn dennoch bekommen, obwohl es um viel geht. So wird am 18. März diesen Jahres Olaf Scholz 100 Tage Bundeskanzler sein und mit den ersten heftigen Abrechnungen zu rechnen haben. Allerdings besteht die Chance, dass das politisch definierte Ende der Pandemie genau mit diesem Ereignis zusammenfällt/ zusammengelegt wird und es überschattet. Dann wird sich ausgerechnet der führungsschwache Kanzler als Überwinder der Pandemie feiern lassen.

Auch das ist Regieren in der Pandemie.