Kultur hatte lange Pause. Nun beginnen zaghafte Versuche in der neuen Normalität. Die Ergebnisse sind durchwachsen.
Es ging durch alle Kanäle. Helge Schneider brach ein Konzert ab. Nena hat ein Konzert vor der Zugabe beendet. Eric Clapton weigert sich vor einem „diskriminierten Publikum“ spielen, wie der Künstler auf Telegram bekannt gab. Auch andere Künstler hadern mit der neuen Wirklichkeit. Manche protestieren, andere experimentieren. Kultur in der neuen Normalität ist steril, geradezu klinisch. Man steht oder sitzt in Boxen, Strandkörben oder steht hinter Gittern. Man wird getrackt, Datensammeln ist en vogue.
Zeit für einen Selbstversuch
Seit fast 20 Monaten kein Konzert, kein Kino, kein Theater, keine Oper. Man fängt an, nach Strohhalmen zu greifen: Die Karl- May-Festspiele in Elspe. Da werden Kindheitserinnerungen wach. Kindheitserinnerungen an unerfüllte Wünsche. Pierre Brice war in Elspe, man wäre so gerne mal hingefahren, aber das war nie machbar. Also Elspe als Erwachsener in der mittleren Spätphase der sogenannten Pandemie. Man rühmt sich in Elspe, ein Modellprojekt zu sein und preist sein Hygienekonzept an. Großveranstaltungen sollen unter solchen Bedingungen wieder stattfinden können. Na, prima, dann kann ja nichts passieren. Doch wie steht es mit der Praxistauglichkeit solcher Konzepte? Und wie geht das eigentlich?
Auf nach Elspe
Karten bucht man heute im Internet. Das erspart gerade bei entfernten Konzerten oder Veranstaltungen viel Schreiberei. Doch es gibt Unterschiede. In der alten Normalität buchte man eine Karte, bezahlte mit irgendeinem Bezahldienstleister, druckte die Karte aus oder lud sie ins PassWallet auf dem Smartphone und dann ging man am Tag der Veranstaltung zum Einlass und harrte der Dinge. Mal geht der Einlass schneller, mal dauert er länger. Schon in der alten Normalität nahmen Sicherheitsmaßnahmen immer breiteren Raum ein. Taschenkontrollen vor Konzerten, daran hatte man sich schon gewöhnt.
In der neuen Normalität sieht das alles ganz anders aus. Nachdem man bei den Festspielen in Elspe seine Karte erworben hat, muss man sich registrieren. Das geht auf einer Webseite oder live vor Ort. Dort hinterlässt man erst einmal eine ganze Menge Daten. Wer die speichert, wohin die Daten gehen und was damit gemacht wird, wird hoffentlich eine DSGVO – Anfrage klären. Man wird darauf hingewiesen, dass man Einlass nur bekommt, wenn man geimpft, genesen oder getestet ist. Praktischerweise hält man eine Teststation in Elspe gleich bereit. Denn der Test darf ja – je nach Inzidenzstufe – bei Ende der Veranstaltung nicht älter als 24 oder 48 Stunden sein.
Quasikultische Reinheit
In der neuen Normalität gibt es außer krank nur noch genesen, geimpft, getestet. Gesund ist hier niemand mehr. Halten wir fest: Die Eintrittskarte berechtigt in der neuen Normalität nicht dazu, an einer Veranstaltung teilzunehmen. Man braucht zudem noch einen Nachweis einer der drei „reinen“ Gruppen anzugehören. Man braucht ferner den Nachweis, seine Daten zur sogenannten Kontaktnachverfolgung hinterlegt zu haben. Sollte sich einer eingeschlichen haben, der allen Nachweisen zum Trotz unrein war, so hat man sich selber „unrein“ gemacht und kann zur Reinigung in Quarantäne geschickt werden. Jede Ähnlichkeit mit kultischen Unreinheitsvorstellungen der Antike wäre natürlich rein zufällig. (vgl.: Koh 1,9)
Wer nun glaubt, alle kultischen Vorschriften erfüllt zu haben, täuscht sich gewaltig. In Elspe bei den Karl-May-Festspielen holt man sich an der Kasse, die man trotz bereits gekauftem Ticket dann doch aufsuchen – und in der Schlange anstehen muss(!) – ein „Token“ ab (s. Foto), welches über die gesamte Zeit des Aufenthaltes alle Kontakte trackt (=aufzeichnet). Kommt man einem nahe, der allen Kontrollen zum Trotz „unrein“ ist, wird das garantiert aufgezeichnet. Fällt die Unreinheit auf, kann man aufgefordert werden, zwei Wochen in Quarantäne zu gehen.
Man stelle sich also vor: man hat sich aus Gründen der Sicherheit für sich und andere impfen lassen und steht nun trotzdem vor dem Risiko, zwei Wochen in Isolationshaft gehen zu müssen. Allein schon das wirtschaftliche Risiko ist unverantwortlich. Nicht zuletzt das wird dafür sorgen, dass sich Menschen sehr genau überlegen, ob sie derartige Veranstaltungen wirklich besuchen wollen.
Logik sucht man vergebens
Auch Arbeitgeber weigern sich zu Recht zunehmend, dieses Risiko zu tragen, kerngesunde, arbeitsfähige Mitarbeiter auf staatliche Anweisung hin bezahlt freistellen zu müssen. Für Selbstständige und Freiberufler, die zu einem großen Teil durch die Maßnahmen ohnehin schon arg gebeutelt sind, stellt das ein nicht zu unterschätzendes zusätzliches Risiko dar. Man mache sich nichts vor, wer sich in eine Menschenmasse begibt, kann sich mit irgendwas infizieren. Immer! Jeder! Wer krank wird, kann dem Grunde nach nichts dazu. Aber wer in dieser neuen Normalität das Risiko eingeht, nur weil er mit einem „Unreinen“ in Kontakt kam, selber „unrein“ und zwei Wochen in Reinigungsisolation geschickt wird, ist selber schuld. Wie anders als eine Bestrafung soll man die zwei Wochen Freiheitsberaubung denn sonst verstehen? Man sollte sich sehr wohl überlegen, ob man unter solchen Umständen Konzerte oder ähnliches wirklich aufsucht.
Mit steigenden Inzidenzen, jenem Kunstwert, der alles staatliche Handeln noch immer dirigiert, steigt das Risiko ins unkalkulierbare. Jeder Familienernährer, der plötzlich zwei Wochen Verdienstausfall schlucken muss, wird wohl lieber das sichere Puschenkino aufsuchen, statt noch einmal das Risiko Großveranstaltung einzugehen. Es gibt kein Limit, wie oft man in Quarantäne geschickt werden kann.
In Elspe darf man nun endlich – Eintritt bezahlt, Daten in Fülle hinterlegt, ausgerüstet mit dem kleinen Datensammler und als nachgewiesen „Reiner“ – dennoch nur mit medizinischer oder FFP2 Maske das Gelände betreten. Wer denkt, die neue Normalität habe irgendeine Ähnlichkeit mit der alten Normalität, sieht sich schnell getäuscht. Auf dem freien Gelände, an frischer Luft, wo der der kultisch gebotene Mindestabstand zu anderen Menschen problemlos eingehalten werden kann, ist die Maske zu tragen. Es sei denn, man isst oder trinkt. Im Zuschauerraum hingegen sitzt das Publikum dicht an dicht. Von dem Mindestabstand, zu dem auf der Webseite des Veranstalters und an jeder Ecke auf dem Gelände aufgefordert wird – und mit dem auf der Webseite geworben wird – ist hier keine Spur. Alle Reihen sind besetzt. Gerade ein Platz zwischen den Gruppen wird freigelassen. Hier müssen keine Masken getragen werden. Und dann setzt der Effekt der monatelangen Panikmache ein, selbst als gelassener Kritiker der Coronapolitik erfasst einen ein gewisses Unbehagen ob der ungewohnten Nähe so vieler Fremder. Schnell ist die Quelle des Unbehagens sehr real: Hat einer in der Nähe in den nächsten Tagen einen positiven PCR- Test, ist man flugs seiner Bewegungsfreiheit und möglicherweise seines Einkommens beraubt.
Über die Aufführung selber sei an dieser Stelle nur so viel gesagt: Ich war vor dem Schlussapplaus schon weg. Die Geschichte war inkonsistent, die Handlung bestand aus einzelnen Szenen, die nur mühsam miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Beschallung des Zuschauerraumes sorgte dafür, dass man die akustischen Eindrücke kaum mit dem Geschehen auf der Bühne oder gar einzelnen Handelnden in Verbindung bringen konnte. Vorsichtshalber habe ich mir „Der Ölprinz“ von Karl May auf den Ebookreader geladen und noch mal nachgelesen. Die Vereinfachungen der Story sind dem Grunde nach Verfälschungen. Aber wen stört das schon. Es hat gekracht und geknallt, es gab den Schurken und Winnetou. Die Enttäuschung sei hier nicht verschwiegen.
Kultur in Neunormal
Es fällt an dieser Stelle nicht schwer, ein Fazit zu ziehen. Die Bilder von Strandkorbkonzerten oder ähnlichen Konzepten sind zwar eher abschreckend. Es wird jedoch vielen so gehen, dass sie dennoch einen Versuch wagen, weil man nun wirklich eine zweistellige Monatszahl ohne Kultur klarkommen musste. Das ist für mehr Menschen als man denkt ein Problem. Und das ist gut so. Wenn in Kinos oder Theatern nur jeder zweite Platz in jeder zweiten Reihe besetzt ist, stört das kaum. Gleiches mag bei Sinfoniekonzerten, Kammerkonzerten und ähnlichem gelten. Die Frage ist, ob es wirtschaftlich tragfähig ist. Mit enorm steigenden Preisen ist in jedem Fall zu rechnen.
Ist das Modell von Elspe oder das Konzept von Strandkorbkonzerten wirklich der Coronaweisheit letzter Schluss, dann werden bestimmte Veranstaltungsformate sterben oder sehr klein werden. Großveranstaltungen stehen jedenfalls auf der Abschussliste der neuen Normalität. Was überleben wird, wird man frühestens in einem Jahr sehen können. Das Risiko, in der Nähe eines kurz nach der Veranstaltung PCR positiv getesteten getrackt zu werden, möchte ich jedenfalls nicht eingehen.
Ergebnis der Selbstversuchs: Bis auf weiteres keine weiteren Experimente.
Eine Änderung sollte man sich ebenfalls unbedingt merken: Am Wochenende spontan essen gehen, ohne einen reservierten Tisch zu haben, kann man knicken. Das ist vorbei. Man sollte dran denken, sonst bleibt nur Fastfood.